"Eisenofen-symptom" oder über die Abkapselung der Gefühle

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    • "Eisenofen-symptom" oder über die Abkapselung der Gefühle

      Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dieses Buch vorstelle,
      es ist auf jeden Fall absolut lesenswert,
      aber ich finde es sehr schwer vorzustellen.

      Schon der Titel des Buches kann nämlich in die Irre führen:
      Heinz-Peter Röhr: Narzissmus. Dem inneren Gefängnis entfliehen.

      Thema das Buches ist nicht (!) die krankhafte Form des Narzissmus,
      sondern die leichte bis mittelschwere Form, also angefangen bei einer "gestörten Selbstliebe, die im Alltag kaum bemerkt" (S. 10) wird bzw. bis hin zu Menschen, "die unter sich selbst leiden, Symptome körperlicher und seelischer Art entwickeln und vor allem im zwischenmenschlichen Bereich große Probleme haben" (S.11)

      Der rote Faden durch das Buch ist das Märchen vom "Eisenofen" (Gebrüder Grimm), das sowohl die Entstehung, Verlauf und auch Heilung des Eisenofen-Syndroms beschreibt.

      Das Drama des Märchens ist, dass ein Königssohn von einer alten Hexe verwünscht wird und in einem großen Eisenofen im Wald leben muss. Gedeutet heißt dies, dass die Mutter (oder auch der Vater) des Kindes sich etwas Falsches für ihr Kind wünschen, dessen Grundbedürfnisse nicht erfüllen und so den "Raub der Gefühle" beim Kind hervorrufen:
      "Der Königssohn im Eisenofen steht dafür, daß etwas, das sehr verletzt wurde, sich eingekapselt hat. Es ist das wahre Selbst, das nicht entfaltet werden konnte. Unter diesen Bedingungen kann die volle Lebensfreude sich nicht frei entwickeln und nach außen strömen. Gefühle in ihrer gesamten Bandbreite könnte man leben, wenn dieses furchtbare Gefängnis nicht wäre. Der dicke Panzer blockiert jedoch den freien Fluß der Gefühlsenergie. Besonders die Fähigkeit, das Herz für die Liebe zu öffnen, ist blockiert. Die tiefe Verletzung ist im Grunde eine Raub der Gefühle." (S. 33)

      Sehr anschaulich werden die Störungen des Gefühlserlebens in seinen unterschiedlichen Ausformungen und Auswirkungen präsentiert. Mit der Königstochter, die sich in dem Wald verirrt und den Königssohn findet, kommt die zweite Hauptfigur auf die Bühne, die selbst unter einer gestörten Beziehung zum Vater (der sie nicht loslassen kann und als Partnerersatz versteht) leidet. Mit dem Fortgang des Märchens werden in bildreicher und somit sehr verständlicher Sprache die Dramen erläutert, die das Eisenofen-Symptom mit sich bringen, verzweifelte und missglückte Versuche, aus dem Ofen auszubrechen, verzweifelte und missglückte Versuche, den anderen zu lieben, der Mut der Verzweiflung, der schließlich den Ausbruch gelingen lässt. Damit ist die Geschichte aber zum Glück noch nicht zu Ende, es folgt: Der dramatische Weg nach dem Ausbruch aus dem Ofen, auf dem es den Mut braucht, sich trotz der Angst vor erneuter Verletzung wieder anderen Menschen gegenüber zu öffnen, und die Kraft braucht, die zuvor abgetrennten und verdrängten Gefühle wieder fühlen und leben zu können.
      Das Ende des Märchens - die geglückte Liebe von Königstochter und Königssohn - steht schließlich für eine Persönlichkeitsheilung, in der die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile im gesunden Sinne vereint zusammen harmonieren.

      Im Anhang gibt es noch eine Erklärung, warum fast "alle Menschen in den westlichen Industrienationen [...] Eisenofen-Probleme" (S.155) haben, ein paar Tipps zum Umgang mit extrem narzisstischen Persönlichkeiten und noch ein Kapitel zum "Gefühlsbaum" mit graphischen Darstellungen, die Blockaden in der Gefühlswahrnehmung zeigen und erklären.

      Die Deutung des Märchens fand ich genial gelöst und geschrieben. Von den vielen Fallbeispielen erschienen mir die meisten Fälle eher Typen des extremen Narzissmus und waren für mich allerhöchstens hilfreich in dem Sinne, dass ich jetzt verstehe, warum manch anderer so ist und handelt. Da der Autor nun aber in einer Suchtklinik arbeitet, arbeitet er vermutlich auch eher mit den extremeren Fällen.

      Wer Lust an der Frage der eigenen Gefühlsblockaden hat, macht mit diesem Buch nichts falsch, sondern wird sehr behutsam und trotzdem deutlich auf die Reise zu seinen Gefühlen genommen. Dass der vorgehaltene Spiegel dabei auch anstrengend ist, lässt sich auf dieser Reise wohl nicht vermeiden.

      Grüße von :melan:
    • Liebe melan,

      sorry, jetzt mal off-topic!
      Ich bewundere dich!
      Warum?
      Wenn ich selbst damals so eine klasse Erörterung in Deutsch abgeliefert hätte...!
      Alle Achtung!
      1 mit Sternchen!!!

      Ach ja, das Buch kenne ich, habe ich auch mal vor einiger Zeit gelesen und finde es wirklich gut!

      LG Flocke
    • melan schrieb:

      Wer Lust an der Frage der eigenen Gefühlsblockaden hat, macht mit diesem Buch nichts falsch, sondern wird sehr behutsam und trotzdem deutlich auf die Reise zu seinen Gefühlen genommen. Dass der vorgehaltene Spiegel dabei auch anstrengend ist, lässt sich auf dieser Reise wohl nicht vermeiden.
      Also würdest du eher sagen, dass es sich in dem Buch viel um Gefühlsblockaden im Allgemeinen geht, oder geht es zum größten Teil schon um die Thematik Narzissmus? Ersteres fände ich nämlich sehr interessant, aber da gäbe es wahrscheinlich Bücher, die besser passen.
      Keep your eyes on the stars and your feet on the ground.
      Theodore Roosevelt

      D:
    • Naja, ich will es mal so sagen,
      mir war nicht klar, dass manche meiner Blockaden doch auch etwas mit Narzissmus zu tun haben.
      Habe das Buch gelesen, weil ich mich an "einem" Narzissten "abarbeiten" wollte,
      und musste dann entdecken,
      dass ich selbst auch drin stecke, auch wenn ich nicht die "fette" Narzisstin bin.

      Nimm und lies,
      ich bin mir sicher,
      du hast da ganz viel davon.